
Gerd Osenberg
*1937
Erfolgreichster Deutscher Leichtathletiktrainer
Gerd Osenberg, der vielfach talentierte Trainer aus Radevormwald schaffte es, den Standort Leverkusen als Synonym für leistungsstarke LeichtathletInnen zu etablieren, ohne dabei sein Selbstverständnis als Pädagoge zu verlieren.
Kurzbiografie
- Geboren 1937 in Radevormwald
- Seit 1949 Mitglied beim TSV Schwarz-Weiß Radevormwald
- Studium: Mathe, Physik und Sport in Main und Göttingen
- 1965-2001 Trainingsgruppenleiter im TuS 04 Leverkusen (1984 Fusion zu Bayer 04 Leverkusen)
- 1968 Olympische Spiele in Mexiko – Silbermedaille für Liesel Westermann (Diskus)
- 1972 Olympische Spiele in München – Goldmedaillen für Heide Rosendahl (Weitsprung und 4x 100 m) und Silbermedaille im Fünfkampf; Rita Wilden Silbermedaille (400-Meter)
- 1985 Bundesverdienstkreuz am Bande
- Olympische Spiele 1984 in Los Angeles – Goldmedaille für Ulrike Meyfarth (Hochsprung)
- 1992 Olympische Spiele in Barcelona Goldmedaille für Heike Henkel (Hochsprung)
- 2000 IAAF – Ehrung für Verdienste um die Frauen-Leichtathletik
- 2005 Sportplakette des Landes NRW
Gerd Osenberg über …
„Die Technik im Stabhochsprung ist es, was mich in allen Disziplinen vorangetrieben hat. Also dieses Rausfinden, was man leisten kann oder wie man es machen kann, da hatte ich keine Anleitung. Als ich dann in den Verein gekommen bin, in Radevormwald, da waren noch von vor dem Krieg Bambusstäbe gelagert. Also konnte ich meine Bohnenstange weglegen. Aber davon habe ich drei zerbrochen, und das war immer relativ gefährlich, weil die splittern, und wenn man dann in der Luft ist und gerade fallen will und das bricht unten weg… Wir haben dann nachher umgestellt auf Stahlstäbe oder Schwedenstahlstäbe. Wir hatten damals schon Übungsleiter, also Schülertrainer, die aber nicht vom Fach waren. Die waren einfach aus Liebe zum Sport da. Und die waren wie ein Vater, also der Herr Rosendahl hat auch schon mit uns trainiert. Er hat uns werfen beigebracht, also das normale Ballwerfen. Ich wurde gut aufgenommen, und wenn man mit vorne ist, hat man nie das Gefühl, dass man nicht geliebt ist.
Wenn man mein Training mitzählt, was man zu Hause gemacht hat, dann habe ich eigentlich jeden Tag trainiert. Im Verein haben wir dreimal in der Woche trainiert. Wir haben auch sehr früh Wettkämpfe gemacht. Es war ganz interessant, wie wir zu Wettkämpfen gefahren sind. Da sponserte ein Elektrounternehmen ein Auto, und wir saßen auf Holzbänken hinten drin, und das Auto war ein Holzvergaser. Das war also kein Öl- oder Gas-Auto, sondern ein Holzvergaser. Und der hat natürlich auch sehr gerochen. Und wir waren immer ein bisschen benebelt, als wir aus dem Auto kamen. Wir haben unsere Langeweile da mit ‚Schinkenkloppen‘ oder so verbracht. Das war alles so im Umkreis Remscheid, Hagen, Wuppertal oder in Opladen, der Birkenberg. Es war so der große Umkreis von 50–60 Kilometern.
Es haben sich in Radevormwald mehrere Vereine zusammengeschlossen, und da bin ich sogar noch Gründungsmitglied bei dem jetzigen Verein. Da war ich so 16. Das ist jetzt auch schon 70 Jahre her. Und ich bin jetzt noch in dem Verein. Dazu kam natürlich, dass der Landesverband in Rade einen Stützpunkt aufgebaut hat, die Sportschule. Da waren wir auch sehr viel später als Trainer involviert. Ich habe dann den Konditionstrainer für alle Disziplinen gemacht, ob das Fechten, Radfahren oder Ringen oder was auch immer war. Da lernt man dann auch sehr viel, zum Beispiel, wenn Unruhe ist, dass man dann unterwegs beim Dauerlauf singen lässt, damit ein bisschen mehr Anstrengung dahintersteckt.
Ich habe neben dem Zehnkampf alle Disziplinen gemacht. Ich habe auch auf der Wiese Hammerwurf gemacht und einen Gewichtsstein gesucht, und dann an die Leine gebunden, die Drehung geübt und losgelassen. Da war aber keiner in der Nähe. Beim Vater Rosendahl durfte ich dann immer die Fehler ausmerzen. Er sagte, worauf ich achten musste. Und dann haben wir zusammen trainiert. Und ich war Trainer bei ihm im Diskuswurf. Er wurde auch Deutscher Meister damals.
In der Schülerklasse war es primär der Mehrkampf: Laufen, Springen, Werfen. Das war so die Grundlage, und das habe ich auch gerne gemacht. Ich konnte sehr weit werfen, ich habe, glaube ich, mit dem Schlagball 89 Meter weit geworfen, und die anderen Disziplinen konnte ich auch. Aber Springen musste ich noch ein bisschen üben. Ich habe dadurch vieles gewinnen können, zumindest auf der Ebene.“
„Ich glaube, dass in Radevormwald mit zunehmender Prosperität die Mannschaft, sagen wir mal, etwas auseinandergefallen ist. Ich bin dann zum Studium gegangen, der Erich Bremicker ist auch gegangen. Vielleicht ist das noch ein Name, der auch im Verband noch Funktionärsarbeit übernommen hat, er ging nach Ludwigshafen, sodass also Herr Rosendahl aufgehört hat und dann war die Mannschaft irgendwie überaltert. Es kamen dann nicht genug junge Leute nach. Dadurch ist das eigentlich so ein Übergang von einem älter werdenden Verein zu einem jungen und aufstrebenden Verein. In Radevormwald waren wir gut, wir hatten Geräte, wir waren kreativ. Das war schon optimal für das Werfen, fürs Springen. In Leverkusen war noch gar nicht so viel. Da musste man auch vieles neu aufbauen in dem Verein, der zunächst mein Verein war. Der andere Verein, den Bert Sumser führte, hieß Bayer 04 und wir waren TuS 04, die nachher fusioniert haben. Und da mussten wir doch schon einiges bewerkstelligen. Wir haben also praktisch erst mal einen Kraftraum gebaut innerhalb des Abstellraums, wo normalerweise die Mattenwagen waren.
Wir hatten einen sehr guten Turntrainer. Ich glaube, er war sogar Olympiasieger. Dann wurden die Basketballer sehr gut, die wurden acht- oder neunmal hintereinander Deutscher Meister. Also der Verein lebte von einem ehrgeizigen ersten Vorsitzenden, der nicht nur in Anführungsstrichen Laufen, Sackhüpfen und Eierlaufen machen wollte. Ich war selbst immer ehrgeizig genug. Man versucht ja dem Schüler, wenn ich jetzt mal Lehrer wäre, das Bestmögliche zu vermitteln. Und das ist im Sport so ähnlich. Man versucht es für den Schüler, für den Sport zu machen. Man hat nie den Verein im Hintergrund oder im Hinterkopf, sondern immer nur den, der vor einem steht, ob der nun dritte Klasse ist oder zweite. Man freut sich über jede Verbesserung, selbst über den, der nach dem Nachhilfeunterricht noch mal eine fünf schreibt und keine sechs – da freut man sich ja auch.“
„Ja, das war 1968, wo eigentlich die größte Enttäuschung bei mir geschehen ist. Und zwar hat die Heide sich verletzt. Sie war meines Erachtens im Mehrkampf – vielleicht mit Ausnahme von Ingrid Becker – von keiner zu schlagen und hat sich Montezumas Rache, also eine Magen-Darm-Krankheit, geholt und sich dadurch auch beim Hürdenlauf am Oberschenkel verletzt. Im Weitsprung hat sie noch teilgenommen, ich glaube, sie ist Achte geworden. Meine große Favoritin war die Liesel Westermann, die damals schon Weltrekord geworfen hatte, als sie noch für Hannover 96 gestartet ist. Aber sie hat bei uns schon trainiert und war sehr, sehr gut vorbereitet. Und in dem Wettkampf war dann eben das, was überall mal passiert: Das Wetter war gegen uns. Es hat in Strömen geregnet, nachdem die Konkurrenz schon geworfen hatte. Faina Melnik hat im Trockenen geworfen, und Liesel musste dann im strömenden Regen auf nassem Boden werfen. Die guten DDR-Werferinnen waren noch sehr viel schlechter, haben 53 oder 54 Meter geworfen, also fast fünf Meter weniger als üblich.
Die Liesel ist noch Zweite geworden. Das war aber für sie und für uns eine echte Niederlage. Und für Heide, die eigentlich Favoritin war, war das ein großer Rückschlag. Vielleicht war das auch eine Motivation, 1972 noch einmal ganz neu anzufangen. Zwischen 1968 und 1972 hat sie dann auch keinen Mehrkampf mehr verloren.
In Mexiko habe ich sehr viel gelernt. Ich war über unser Werk in Leverkusen privat untergebracht, bin dann praktisch jeden Tag auf dem Sportplatz oder auf einer Laufbahn geblieben und habe wirklich die ganze Weltklasse beobachtet. Da war zum Beispiel Al Oerter, ein Diskuswerfer, der mit einer Bleimanschette auf den Schultern trainiert hat. Da muss man ja mal drüber nachdenken: Warum macht er das? Um die Achse zu stabilisieren, um das Gewicht besser zu verteilen. Und so habe ich in allen Disziplinen viel gesehen und gelernt. Damals war Coaching ja noch verboten. Aber ich habe zum Beispiel Bob Beamon springen sehen. Vor dem strömenden Regen kam eine Windböe – und für mich war das ganz klar zu viel Rückenwind. Aber man hat es damals noch nicht so genau gemessen, und er ist einfach geflogen. Der kam gar nicht mehr runter, und ich stand praktisch direkt davor.
August Hirsch war damals DLV-Präsident, aber in der Leichtathletik war es Beuermann, der das Sagen hatte. Zu August Hirsch habe ich auch eine schöne Anekdote: Als wir sehr erfolgreich waren, hatte sich Dr. Hirsch darüber mokiert, dass wir innerhalb der Nationalmannschaft eine eigene Gruppe bildeten. Aber wir waren eben viele, und wir waren in allen Disziplinen vertreten. Er wollte sich beim Vereinsvorsitzenden beschweren, wir sollten uns mehr den anderen annehmen. Und dann sagte der Vorsitzende: ’Wir essen à la carte. Wenn Sie weiter Menüessen machen, dann müssen Sie das machen.’ Also, unser Vorsitzender hat sehr wohl verstanden, wie wir unsere Mannschaft geführt haben und wie wir auch im nationalen Bereich als Gruppe zusammengehalten haben.
Das war meine erste Reise nach Mexiko. Von außen heißt es dann oft: ’Du hast doch alle Welt gesehen.’ Nein – ich habe alle Stadien gesehen. Und das sehr begeistert. Und natürlich die Musik! Wir wurden mit mexikanischer Musik empfangen – das war schon schön. Ich war im Frühjahr sogar schon einmal dort, um die Bedingungen in der Höhe fürs Diskuswerfen zu testen. Die Luft trägt dort nicht so gut. Das heißt, man muss mit mehr Rotation werfen, damit der Diskus in der Luft besser versetzt wird. Das muss man trainieren. Und da habe ich ein bisschen mehr von Mexiko gesehen – unser Bayer-Vertreter vor Ort hat uns sogar bis nach Acapulco gebracht. Aber nach den Spielen war man enttäuscht. Trotz der Silbermedaille war man einfach froh, wieder nach Hause zu kommen.“
„Angebote von außen waren nicht so leicht. Denn bei Bayer Leverkusen bin ich Werksangehöriger gewesen – das merke ich auch jetzt in der Rente, das ist schwer zu toppen. Selbst ein Bundestrainer hat es da schwer, das finanziell zu überbieten. Und wenn ich ehrlich bin, habe ich auch nie das Bedürfnis gehabt, mich irgendwie anders darzustellen – als Manager oder sonst wie. Ich bin gerne in dem Verein geblieben und meinem Metier treu geblieben. Und im Nachhinein kommen dann natürlich auch gewisse Rechtfertigungen, sag ich mal: den Frauen nach oben geholfen, dann kam die Geschichte mit Israel. Wir waren die Ersten, die nach Israel gefahren sind, und da war noch sehr viel Distanz. Aber wenn man dann Erfolge hat, wird man aufgenommen, wird geehrt. Man hat den Sport in Israel auch wieder für uns kontaktfähig gemacht. Wir hatten sehr oft Trainingsgruppen aus Israel bei uns. Es kamen auch Trainer, die direkt bei uns gewohnt haben.
Diese verbindenden Elemente werden einem immer bewusster – vor allem dieses Globale. Dann kamen aus Japan Werferinnen, aus Österreich und der Schweiz Werfer, und ganz am Schluss aus Irland eine Hochspringerin, die 1,95 Meter gesprungen ist. Mein letzter Athlet kam aus Grenada, ein Dreispringer. Der Randy ist auch 17,48 Meter gesprungen – das ist ja auch nicht wenig. Und dann merkt man: Das ist ja nicht mehr nur der Verein. Das ist jetzt eine Aufgabe, in der man ganz anders tätig sein kann. Pädagoge bleibt man immer.
Es sind manchmal die Unsinnigkeiten und das Gesellige, was einem mehr in Erinnerung bleibt als die Ergebnisse selbst. Es interessiert ja keinen, ob man mal 10,3 oder 10,2 gelaufen ist. Das war einfach die schönste Zeit meines Lebens. Vorgestern hat mich noch ein Weitspringer angerufen, der in Montreal dabei war – Hans-Jürgen Berger, der ist auch 8 Meter gesprungen. Er hat gesagt: ’Ich möchte mich noch mal bedanken, das war die schönste Zeit.’ Und dann hat er von seinen Problemen erzählt, und man kann ihm Ratschläge geben, was man machen könnte. Also: Es ist schon ein erfüllender Beruf. Aber das wird es wahrscheinlich in anderen Bereichen auch geben – nicht nur im Sport.“
„Ich würde sagen, Leichtathletik bleibt ein Grundlagensport. Aber wir haben heute sehr viele, die intensiv Sport treiben. Bei den Frauen sind Basketball, Fußball und Volleyball dazugekommen. Da gehen natürlich viele Talente in andere Sportarten – man kann nicht mehr erwarten, dass sie dort bleiben, wo sie früher bleiben mussten: im Turnen oder in der Leichtathletik. Im Turnen war ja auch Schluss, wenn jemand zu groß war. So hat sich der Sport, was ja kein Nachteil ist, von der Basis her immer mehr hin zu Beachvolleyball und anderen verrückten Dingen entwickelt. Hauptsache, die körperliche Betätigung ist da, die Freude ist da, die Fairness ist da – und die Werte, die wir im Sport haben, werden gelebt. Das muss nicht unbedingt in der Leichtathletik sein. Aber Sie haben schon recht, die Leichtathletik hat ein bisschen an Image verloren, weil sie nicht so leicht zu vermitteln ist.
Schöner ist es dort, wo man etwas ausgliedern kann. Nehmen Sie das Stabhochspringen – das ist eine Disziplin, da bekomme ich viele Zuschauer. Oder noch wichtiger: Marathon. Schauen Sie sich Boston an, da stehen Millionen Zuschauer an der Strecke, da lebt der Sport. Aber wenn man in einem Leichtathletikstadion sitzt, weiß man oft gar nicht, wo man hinschauen soll – da stößt einer Kugel, dort springt jemand, da läuft ein Start. Das kommt beim Zuschauer nicht gut an. Und dann noch der Fehlstart – das ist auch eine falsche Regel. Ich habe mich zwar noch nicht dazu geäußert, aber Fehlstart ist Blödsinn – für den Zuschauer und für den Athleten. Der hat monatelang trainiert, zuckt einmal und darf nicht mitlaufen. Der sollte mitlaufen dürfen, und erst im Nachhinein sagt man: ’Tut mir leid, du bist disqualifiziert.’ Aber so wie es jetzt ist – ein Athlet reist von weit her an, kostet alles Geld, der Zuschauer will ihn sehen, und dann ist alles vorbei, weil er gezuckt hat. Das ist nicht richtig.
Wenn ich auf die letzten Jahre zurückschaue: Wenn ich in die Halle kam, wurde ich von Athleten angesprochen, die mich nach ihren Fehlern gefragt haben. Das zeigt mir: Es ist nicht viel Neues hinzugekommen. Ich bin überzeugt, dass der wesentliche Erfolg mehr im Zwischenmenschlichen liegt – zwischen Athlet und Trainer. Da kann man noch so viel studieren. Und um auf Ihre Frage zurückzukommen: Wo liegt das Problem der Leichtathletik?
Es ist das Problem, erfolgreiche Sportler langfristig zu fördern. Man macht ehemalige Spitzensportler zu Trainern – aber die sind oft sehr fokussiert auf ein oder zwei Disziplinen, haben keinen Überblick und sind selten ausgebildete Pädagogen. Psychologisch oder didaktisch sind sie oft nicht vorbereitet. Dann wird der Erfolg eben über Strenge gesucht – oder im schlimmsten Fall über medikamentöse Mittel.
Uns fehlen die verbindenden Elemente: zwischen dem Sportlehrer in der Schule und dem Verein, zwischen dem Verein und dem Verband. Jetzt versucht der Verband, erfolgreiche Vereine über finanzielle Zuwendungen zu steuern, indem sie z. B. Trainer mitfinanzieren. Das ist nicht der richtige Weg. Der Weg muss über Begeisterung kommen – nicht über Geld aus der Gießkanne. Und auch nicht über Spezialwissen in einer Disziplin. Denn nicht jeder, der weit skispringt oder gut boxt, ist automatisch ein guter Trainer.“