Hans-Peter Durst
*1958
Triathlet sowie Paralympicssieger und Weltmeister im Paracycling
Im Alter von 58 Jahren raste Hans-Peter Durst auf seinem Dreirad zu zwei paralympischen Goldmedaillen. Auch im Triathlon reüssierte der gebürtige Allgäuer, der als erster Para-Athlet zum „Sportler des Jahres“ seiner Wahlheimat Dortmund gewählt wurde.
Kurzbiografie
- Geboren 1958 in Kaufbeuren (Allgäu)
- Studienabschluss: Diplom-Betriebswirt
- 1985-1994 Tätigkeit in der Brauwirtschaft für die ‘Brau und Brunnen AG’ sowie die ‘Kulmbacher Brauerei AG’
- 1994-1996 Erleidung eines Schädel-Hirn-Traumas und danach 23-monatiger Klinik-Aufenthalt infolge eines unverschuldeten Verkehrsunfalls
- 2009-2011 Vier Deutsche Meisterschaften im Paratriathlon
- 2011, 2012, 2016 Sportler des Jahres in Dortmund
- 2011-2019 Sechs Weltmeistertitel im Einzelzeitfahren auf der Straße und drei Weltmeistertitel im Straßenrennen
- 2012 Silber bei den Paralympics in London (gemischtes Einzelzeitfahren)
- 2012 und 2016 Silbernes Lorbeerblatt
- 2016 Gold bei den Paralympics in Rio de Janeiro (Einzelzeitfahren und Straßenrennen)
- 2021 Europameistertitel (Einzelzeitfahren und Straßenrennen)
Hans-Peter Durst über …
„Die berufliche Ausbildung und Studienwahl waren für mich mit einem zentralen Ziel verbunden. Ich hatte nichts gegen meine Eltern, aber ich wollte einfach in die große, weite Welt. Also habe ich mich 1976 zum Diercke Weltatlas gesetzt, habe einen Zirkel genommen, um Ummendorf oder Biberach herum einfach mal 600 Kilometer gemalt – das war für mich dann die große, weite Welt. Mindestens so weit weg musste ich gehen. Und da kam ich per Zufall durch Dortmund. Dortmund kannte man in dem Fall schon als Fußballstadt. Ich hatte ganz in der Nähe Verwandtschaft in Castrop-Rauxel. Ich dachte: Mensch, das wäre doch eine gute Gelegenheit, dort mal zu fragen: Gibt es da Möglichkeiten und kann man dort BWL studieren? Das ist ganz wichtig für mich gewesen und es hat alles geklappt. Ich bin dann dort angekommen, habe erst privat bei meiner Verwandtschaft gewohnt und habe mir dann ein eigenes Zimmer gesucht. In einer kleinen Garage, also typisch Student und kleine Bude. Ich hatte einen kleinen Vespa-Roller und wollte eigentlich im Prinzip ein Jahr oder zwei Jahre mal dort meine Ausbildung, mein Studium abschließen und dann wieder zurück ins beschauliche Allgäu. Das war nämlich mein klares Ziel. Man hatte ja dort seine Freunde, hatte auch schon die erste Freundin, die man zurücklassen musste. Aber es kam eben dann anders. Es kam so, dass ich eben am dritten, vierten Tag in eine kleine Kapelle in Dortmund zum Gottesdienst ging. Samstagabend, 18 Uhr-Gottesdienst, Margaretenkapelle in Barop. Und da saß eben eine junge Frau mit ihrer Mutti. Und irgendwie war selbst der Rücken von ihr schon entzückend. Wir sind jetzt über 36 Jahre verheiratet und kannten uns dementsprechend auch schon vorher. Und so ist dann Dortmund wirklich der Mittelpunkt meines gelebten Lebens gewesen. Wobei das Allgäu, Oberschwaben auch in unserer Familie, in der neugegründeten Familie Durst, dann eben auch einen ganz großen Stellenwert hat.
In Dortmund wollte ich natürlich relativ schnell Menschen kennenlernen. Das geht am besten im Vereinsleben. Jetzt hatte ich natürlich die Erinnerung an Tischtennis und habe mich in Dortmund ein bisschen umgehört. Da gab es sogar von dem großen BVB, den man eigentlich aus dem Fußball kennt, auch eine Bundesliga-Mannschaft mit mehreren Untermannschaften im Tischtennis. Aber da war ich einfach nicht gut genug. Das war schon eine ganz andere Liga. Und ich hätte da irgendwie mittrainieren können, das wollte ich dann eigentlich nicht und habe mich dann eben mehr spezialisiert aufs Fahrradfahren. Alles, was man so machen kann, ohne jetzt zeitlich sehr stark eingebunden zu sein. Ich habe dann angefangen mit Sportarten wie Schwimmen. Alles, was einen leichten Zugang hat. Ich habe darüber auch relativ schnell Menschen kennengelernt. Aber es war eben kein zentraler Punkt, wie es eigentlich in meiner Heimat war. Dieses klassische Vereinsleben in einem kleinen Dorf, das gibt es in dem Fall in einer Großstadt weniger. Ich bin natürlich auch aktuell in drei Vereinen als Mitglied aktiv. Aber es ist ein anderes Vereinsleben als in einem Dorf, da ist das Vereinsleben der Mittelpunkt.“
„Im Prinzip sage ich immer: Mein Entdecker für den Parasport war wirklich ein Mechaniker – Hermann Frey, er war selber toller Sportler. Und der hat mich einfach angesprochen, sah mich als Menschen mit Behinderungen auf einem Dreirad und sagt: ‚Da will ich mal dem Bundestrainer, das war damals Adelbert Kromer aus Reute bei Freiburg, mal einen Athleten zuführen.‘
Jetzt war ich nicht mehr der Jüngste. Ich war ja auch schon zu dem Zeitpunkt über 40, das weiß ich nicht mehr ganz genau. Aber er hat mich einfach zugeführt. Das war eine großartige Sache. Und so kam eben die erste Inspiration. Ich musste dann im Prinzip für einen Startpass auch in einen Verein gehen. Das war dann eben ein Dortmunder Behindertensportverein, RBG Dortmund 51. Da habe ich mich lange gewehrt, weil ich gesagt habe: ‚Aber ich bin doch nicht so stark behindert, dass ich in einen Behindertensportverein gehe!‘ Ich wollte da eigentlich gar nicht rein, weil ich mich nicht so behindert fühlte. Ich wollte in einen Radsportverein gehen.
Aber das haben wir dann gemacht. Es war ein ganz tolles Team, also auch eine unglaublich lebendige Geschäftsführerin, die dann meine ersten sportlichen Dinge auch begleitet hat. Ich wollte dann auch nicht nur Radfahren, sondern wollte dann auch bisschen Triathlon ausprobieren. Also alles, was halt in der Region war.
Dann sind wir nach Willich-Schiefbahn. Da gab es dann das erste Mal die kürzeste Distanz im Triathlon, also wirklich ein Sprinttriathlon. Es war in einem 25-Meter-Becken. Das habe ich mir zugetraut, weil ich nicht so gut schwimmen kann. Durch die mangelnde Koordination kann ich nicht gut kraulen, weil ich dann die Orientierung im Wasser verliere. Ich muss also immer wieder sehr viel Brustschwimmen. Dann war da eine kurze Radstrecke. Ich glaube, das waren nur zehn Kilometer und drei Kilometer Laufen. Und dann kam man das erste Mal zusammen an, mit anderen Sportlern mit Behinderungen, also anderen Dreiradfahrern und anderen Rollstuhlfahrern. Und ich habe dann einen sehr netten Menschen aus Bochum kennengelernt, Markus Schlüter, der bei mir in der Nähe wohnte, das war auch wichtig.
Mit dem habe ich dann das erste Mal unter Menschen mit Behinderungen trainiert. Der war schon viele Jahre dabei, war nicht ganz so erfolgreich, aber er war immer bei den Meisterschaften dabei. Er hat sich auch durchgekämpft bei Triathlon-Veranstaltungen ohne Behinderung, also bei ganz normalen Veranstaltungen in Carmen und wo die halt bei uns um die Ecke waren. Und das hat mir eine unglaubliche Freude gemacht und hat mich inspiriert. Ich sage: ‚Mensch, wenn Menschen mit Behinderung so tolle Leistung können, dann geht ja bei mir vielleicht auch noch was, trotz meines Alters.‘ Und dann haben wir den ersten Triathlon gemacht. Er hat mich dann immer angemeldet, hat gesagt: ‚Mensch Hans-Peter, lass uns doch dahinfahren. Deutsche Meisterschaft.‘
Im Triathlon, habe ich noch einige deutsche Meistertitel gewonnen. Aber es spezialisierte sich doch mehr und mehr zum Radfahren, weil die anderen beiden Disziplinen, die sind halt bei mir schon sehr stark unterbelichtet. Und dann gibt es ja auch verschiedene Klassen natürlich und das Schwimmen und Laufen. Laufen ist dann später auch meine Leidenschaft geworden, aber eben halt nicht auf diesem sportlichen Niveau. Das ist dann eher ein Ausgleich. Erik Zabel würde sagen: ‚Alternatives Training‘. So hat es sich dann immer mehr zum Radsport entwickelt. Ich bin dann eben wirklich mit in diese Trainingslager des deutschen Radsportteams. Heute heißt es ‚Paracycling Team Germany‘ und habe relativ schnell festgestellt, dass ich gar nicht so schlecht bin, dass also die, die schon länger auf einem Dreirad sitzen, gar nicht unbedingt stärker sind als ich. Das hängt ein bisschen auch an den an den individuellen Behinderungen. Aber ich hatte wohl die Gabe, dass ich eben auch punktgenau trainiert habe. Ich konnte mein linkes Bein auch richtig gut trainieren. Das ist also wirklich ein starkes Bein, das darf ich heute sagen. Das Rechte ist ein bisschen eingeschränkt, aber das ist okay. Ich habe einfach diese Technik durch mein langes vorheriges Dreiradfahren ohne sportliche Ziele.“
„Der Sport hat dann ab diesem Zeitraum wirklich eine sehr viel zentralere Rolle eingenommen. Unser Sport bleibt weiterhin ein Amateursport. Ein Sport für Menschen, die mit Leidenschaft Sport machen, aber keine Berufssportler oder Profisportler sind. Das macht vielleicht auch noch mal einen besonderen Unterschied. Für mich ist es einfach wirklich eine ganz große Leidenschaft geworden. Und natürlich zunehmend mit diesen Erfolgen, diesen ersten Erfolgen bei Meisterschaften, das ging ja dann bei mir auch relativ schnell. Man hat gar nicht so einen sehr langen Anlaufweg gehabt. Von der ersten deutschen Meisterschaft im reinen Paracycling zur ersten Weltmeisterschaft in Roskilde in Dänemark waren es ja nur zweieinhalb Jahre. Das ist eigentlich gar nichts, das hat natürlich schon elektrisiert.
Auch im Umfeld war das natürlich so: ‚Mensch Durst, was machst du? Das ist ja unglaublich! Wir haben von dir in der Zeitung gelesen. Du bist Deutscher Meister geworden!‘ Ich sage: ‚Ball flach halten, es macht einfach Spaß.‘ Sagt er: ‚Aber wenn du doch Deutscher Meister bist und bist vorgeschlagen zum Weltcup in Italien, dann fährst du doch dahin?‘ ‚Das muss ich erst Mal mit meiner Frau besprechen. Jemand muss mich ja dahinfahren.‘ Ich hatte natürlich vorher auch mit meinem Deutschen Behindertensportverband gesprochen, mit den Betreuern des Paracycling Teams. Da war eine sehr nette Dame, die leider nicht mehr lebt, die Heidi Hoch, die uns Dreiradfahrer so ein bisschen als Co-Trainerin betreut hat. Und ich habe ihr immer gesagt: ‚Ich muss natürlich schon irgendwie gucken, wie ich zu den Rennen komme, weil ich nicht Autofahren darf.‘ Ich kann auch mit dem Dreirad, mit Ersatzlaufrädern, mit dem ganzen Equipment nicht im Zug fahren. Zumal man in den größeren Zügen gar nicht mit einem Dreirad rein darf, weil die Türen viel zu schmal sind. Und da war natürlich der Deutsche Behindertensportverband schon noch etwas rudimentär, das muss ich schon sagen. Und es hat sich leider auch bis heute bis 2021 noch nicht geändert. Das eben Athleten, die Assistenz brauchen, eben keine Assistenz bekommen. Das gibt es in anderen Ländern, kann die jetzt rückblickend sagen. In anderen Ländern ist es deutlich besser. Wir trainieren sehr viel mit dem australischen Team, mit dem kanadischen Team, wo es eine Selbstverständlichkeit ist, wenn jemand sich nicht selber bewegen kann, wenn er nicht Auto fahren kann, wenn er andere Einschränkungen hat, die ihn behindern, dann wird ihm eben Assistenz gegeben, ist gar keine Frage.
Wir sind dann in die Familie gegangen, haben uns zu viert an den Tisch gesetzt und haben gesagt: ‚Wie können wir das hinkriegen?‘ Ich habe eine Einladung zu einem Weltcup in Piacenza Italien. Da ist man natürlich so als Athlet – da möchte man eigentlich schon gerne hin. Und dann haben wir überlegt: Wie könnten wir es handlen? Dann hat meine Frau gesagt: ‚Gut, dann müssen wir mal zu einem Händler fahren. Mal gucken, dass wir so einen guten Ständer kriegen, für hinten drauf aufs Auto.‘ Und ja, dann sind wir zum ersten Weltcup gefahren nach Italien, ich glaube, am Ende gab es den dritten Platz und den zweiten Platz gegen Namen, die für mich bis dahin immer so die ganz Großen im Dreirad waren. Die Betreuerin, die Heidi Hoch, die hat dann auch gesagt, heute könnte es sein, dass der Engländer startet. Sie hat gar nicht den Namen gesagt, weil der eben schon Paralympics-Sieger war. Der hat in Peking Gold gewonnen, also das waren große Namen. Ich dachte: Jetzt kommen wir endlich mit denen in Berührung. Aber leider hat sich es sich fast nie ergeben, weil die ganz Großen sind halt immer wo ganz anders gestartet, als ich starten durfte. Aber es hat sich dann irgendwann ergeben, dass wir uns auch kennengelernt haben.“
„Das Thema Inklusion ist natürlich für uns Sportler und aber auch für die ganze Gesellschaft ein ganz wichtiger Part im olympischen- wie im paralympischen Sport. Ich werde ja immer mal so gefragt: ‚Hast du Visionen?‘ Und ich sage: ‚Klar habe ich Visionen.‘ Ich habe Träume, dass mal ein wirklich internationales Sportereignis, sportartenübergreifend oder vielleicht erst einmal nur in Deutschland eine Deutsche Meisterschaft sportartübergreifend stattfindet, wie es jetzt diese zehn oder zwölf Sportarten ja schon so ein klein bisschen vormachen. Dass man die wirklich inklusiv macht, dass man die gleichwertig macht, dass man Möglichkeiten schafft, dass Menschen mit und ohne Behinderungen am gleichen Ort zur gleichen Zeit mit der gleichen Medienaufmerksamkeit Sport treiben können und dann später auch darüber berichten können. Dann ist dieses Gebilde, was ich mir immer so vorstelle, mit den schönen bunten Kügelchen, wirklich gleichwertig wunderbar verteilt. Ich weiß, dass es natürlich irgendwo immer an Grenzen gerät. Das ist auch gar nicht so schlimm, weil Menschen, wir kennen es aus der Schule, sind sehr verständnisvoll, wenn man vernünftig erklärt, warum manche Dinge nicht gehen. Es geht auch in der Schule nicht Inklusion pur. Ich bin selbst sehr, sehr viel an Grund- und Realschulen. Inklusion kommt natürlich auch an Grenzen. Es ist gar keine Frage. Und da sind Eltern und auch die Schüler und Schülerinnen selber sehr verständnisvoll, wenn man sagt: ‚Es muss auch noch ‚Sonderschulen‘ geben, wo man eben auf bestimmte Dinge eingeht.‘ Und so ist es im Sport auch.
Also wir sollten erst Mal in unseren eigenen Verbänden anfangen. Das heißt also im Deutschen Behindertensportverband. Da müssen wir Inklusion erst mal richtig leben. Leben heißt auch, die Sportarten mit Leben erfüllen, den Menschen die Möglichkeiten geben, dass sie ihren Sport ausüben können mit der Behinderung, die sie eben haben, in der Sportart, die sie gerne ausführen möchten. Klar kann man sagen: ‚Du kannst jetzt eben nicht zum Radsport ohne Assistenz. Das geht nicht. Aber du kannst zum Schwimmen gehen.‘ Aber ein junger Mensch möchte vielleicht nicht schwimmen, sondern der möchte gerne auf seinem Dreirad fahren. Und das muss man ihm dann einfach ermöglichen. Die Gelder sind da, das weiß ich, und das weiß ich auch von den Ministerien, den Gesprächen, die ich mit mit den Mitgliedern des Sportausschusses im Deutschen Bundestag und mit den Mitgliedern des Sportausschusses in NRW führe. Die Gelder sind da, sie müssen einfach in die richtigen Bahnen kommen. Und dann geht es natürlich darüber hinaus, der Deutsche Olympische Sportbund, da sollte natürlich dann irgendwann auch eine Verzahnung erfolgen, vorsichtig und langsam. Man möchte niemanden übervorteilen. Es ist auch für den Deutschen Olympischen Sportbund nicht einfach, jetzt plötzlich zu hören: ‚Wir wollen jetzt in allen Sportarten mit den Menschen mit Behinderungen zusammenarbeiten!‘ Man muss auch dort Konzepte entwickeln. Man muss Kooperationspapiere schreiben. Man muss vor allem in Kontakt treten. Man muss sich austauschen, sagen wir mal die Sportdirektoren, Schimmelpfennig und so weiter müssen halt in die Gespräche eingebunden werden. Und es muss von oben kommen, wie ich finde. Also, dass die Präsidenten sich verstehen und die gleiche Meinung haben, was Inklusion bedeutet. Aber es muss genauso von den Athleten selber kommen, da gehöre ich dazu. Wir sollen nicht warten, bis irgendwann Konzepte entstehen, sondern wir sollen wirklich täglich auch daran mitarbeiten. Wir haben ‚Athleten-Deutschland‘, wir haben Athletensprecherinnen und Athletensprecher. Das wir denen auch immer wieder Impulse und Input geben. Es muss einfach ein Geflecht, ein Netzwerk geben, dass wir dieses Wort Inklusion im Sport irgendwann gar nicht mehr brauchen.“
„Ich habe mich dann mit meinem Para-Sport-Support-Team, das heißt also einer kleine Menge an Menschen, insbesondere natürlich auch meiner Familie, zusammengesessen. Ich habe unglaublich viele E-Mails geschrieben, persönliche Gespräche und Telefongespräche geführt. Mit Dagmar Freitag als Vorsitzende des Sportausschusses, der Präsidentin vom Ethikrat, dem Sportlichen Leiter hier vom Landessportverband, natürlich mit meinen Trainern und dem Sportdirektor vom Deutschen Behindertensportverband. Ich wollte einfach eine umfassende Meinung und umfassende Informationen haben, weil meine Werte mir gesagt haben, in dieses Land, wo die Krankenhäuser voll sind, die haben keinen Impfstoff – zu der Zeit haben die ja gerade erst angefangen zu impfen, weil die Japaner gerne selber mit eigenem Impfstoff geimpft hätten, was ihnen dann nicht gelungen ist. Die mussten am Schluss den Schweizer Impfstoff nehmen, weil sie halt partout nicht den chinesischen Impfstoff wollten. Das ist halt in der Mentalität so. Die Krankenhäuser waren voll, die hatten seit vielen Monaten Notstand. Die Menschen haben abgestimmt, die haben gesagt: ‚Bitte verschiebt diese Paralympics.‘ Ich spreche jetzt mal nur für die Paralympics, sonst muss ich immer Olympische Spiele und Paralympics sagen.
Nicht weil sie uns nicht mögen, Japan ist ein unglaublich sportbegeistertes Land, aber die haben einfach Angst gehabt, noch länger diese Notstandsverordnungen zu haben. Und ja, dann musste eine Entscheidung her. Dann habe ich noch mal mit Leuten telefoniert und gesprochen die in Japan leben. Die sagten: ‚Das ist unvorstellbar unverantwortlich. Das kann gar nicht sein, dass diese Spiele dieses Jahr stattfinden!‘ Aber irgendwie sind sie halt dann doch zu den Olympischen Spielen gekommen. Und dann war für mich natürlich auch klar, die Paralympics fallen aus. Da habe ich gesagt, ich muss jetzt aber so fair sein, wenn ich schon meine Entscheidung treffe, dann aus den drei Gründen:
Einmal hauptsächlich den gesundheitlichen Gründen natürlich. Die bei uns ja auch schon leicht wieder steigenden Inzidenzzahlen, aber insbesondere eben in Japan.
Dann war es mir eben auch wichtig, diese Umfragen der Japaner miteinzubeziehen. Und eben das hört sich ein bisschen pathetisch an. Aber diesen Respekt der japanischen Bevölkerung zu zollen.
Und dann war aber auch ein persönliches Thema für mich ganz wichtig. Wir haben vorhin darüber gesprochen, dass ich aus der Bierbranche komme. Meine Frau kommt aus der Hotellerie. Wir haben viele Freunde, die genau in den Branchen arbeiten, Getränkefachgroßhändler, Brauereien, Gasthäuser, Gasthöfe, Hotels, Veranstaltungsmanager. Und denen ging es in diesen Maiwochen sehr, sehr schlecht. Die lebten im Prinzip von Förderungen, lebten von nicht erteilten Förderungen, lebten zum Teil von der Substanz. Mitarbeiter waren in Kurzarbeit oder wurden entlassen. Und ich habe gesagt: ‚Ich mache jetzt die zweitschönste Sache der Welt, das ist mein Sport. Aber es bleibt halt nur ein Hobby. Das bleibt die schönste Nebensache der Welt.‘ Und dann kommen tolle Bilder dabei raus aber denen geht es eigentlich nicht gut. Das konnte ich einfach nicht mit mir vereinbaren. Das war nicht mein Ding, es sind halt die Werte, die ich leben möchte.
Es war schwer. Das ist gar keine Frage. Es waren dann auch viele schlaflose Nächte dazwischen. Viele Tränen auch im Vorfeld bei mir, weil mir klar war, ich werde viele Leute auch enttäuschend. Zum Beispiel gerade die Sportdirektoren, die ja auch von unseren Medaillen, von unseren Erfolgen Leben. Die werde ich enttäuschen. Das ist gar keine Frage. Dann habe ich mit meiner Partnerin gesprochen. Wie groß ist die Enttäuschung, wenn ich das absagen würde? Wollt ihr gerne eure Förderung zurückhaben? Muss ich vielleicht rückwärtig das Auto fünf Jahre bezahlen, das machen wir alles. Meine Frau und ich haben gesagt, das würden wir auch machen. Weil die Überzeugung, dass die Spiele zur falschen Zeit stattfinden, war so groß, dass ich einfach gesagt habe: ‚Es geht nicht!‘ Und das tut natürlich im Nachhinein ganz gut, wenn man so ein bisschen reflektiert, dass ich sage mal 90 Prozent der Rückmeldungen zustimmend und respektvoll waren. Natürlich mit voller Berechtigung auch einige konstruktiv dagegen waren, damit muss man leben. Das mag ich auch gerne, wenn Leute ihre Meinung sagen.“